Wie wir die Eröffnung des Weltwirtschaftsgipfels verhinderten
-- Das Direct Action Network in Seattle am 30. Nov. 1999
Seit ich das Gefängnis wieder verlassen habe, beschäftigt mich die Diskrepanz
zwischen dem tatsächlichen Geschehen bei der Blockade des Weltwirtschaftsgipfels in
Seattle vor zwei Wochen und der Berichterstattung der Medien. Noch nie habe ich bei einer
politischen Aktion eine derartige Medienpräsenz erlebt. Dieses Mal stimmte es, wenn wir
sangen: "Die ganze Welt schaut zu!" Und doch entsprechen fast alle Berichte
nicht entfernt der Wahrheit über die erfolgreiche und gewaltfreie Aktion.
Die Polizei verteidigte ihr brutales und dummes Fehlverhalten damit, daß sie
"nicht auf die Gewalt vorbereitet gewesen seien". Tatsächlich aber waren sie
nicht vorbereitet auf die Gewaltfreiheit und auf die Anzahl und Einsatzbereitschaft der
AktivistInnen und das obwohl die ganze Blockade in öffentlichen Sitzungen
vorbereitet worden war. Mein Verdacht ist, daß ihnen unser Organisationsmodell und unsere
Art der Entscheidungsfindung so fremd waren, daß sie buchstäblich nicht wahrnehmen
konnten, was vor ihren Augen geschah.
Wenn autoritätsgebundene Menschen über Führung nachdenken, dann stellen sie sich
eine Person, meist einen Mann, oder eine kleine Gruppe vor, die den anderen sagen, was sie
zu tun haben. Macht ist für sie zentralisiert und verlangt Gehorsam.
Unser Modell der Macht ist jedoch dezentral, und die Führung lag bei der gesamten
Gruppe. Die Teilnehmenden wurden ermuntert, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen; und
zentrale Strukturen gab es nur zur Koordination, nicht aber zur Kontrolle. Dadurch
erreichten wir solche Flexibilität und Ausdauer, und viele Leute fühlten sich zu so
mutigen Handlungen inspiriert, wie man sie ihnen nie hätte befehlen können.
Hier einige Aspekte unseres Organisationsmodells:
Vorbereitung und Übung:
- In den Wochen vor der Blockade unterzogen sich tausende Menschen einem
Gewaltfreiheitstraining geistiger Hintergrund, Rollenspiele, gewaltfreier Umgang
mit Brutalität und Finden gemeinsamer Entscheidungen. Tausende machten auch noch eine
zweite Ebene mit und bereiteten sich vor auf Gefängnisse, Solidaritätsstrategien und
rechtliche Fragen. Es gab auch Übungen in erster Hilfe, in Blockade-Taktiken,
Straßentheater, Versammlungsorganisation usw. Obwohl auch noch Tausende ungeübter
Menschen teilnahmen, gab es doch überall Kerngruppen, die sich darauf eingestellt hatten,
sich mit der Brutalität der Polizei auseinanderzusetzen und die Zentren des Widerstandes
und der Kraft bildeten. Im Gefängnis konnten wir wie geübt mit vielen
Situationen umgehen, uns zum Beispiel gegenseitig vor Vereinzelung schützen. Gerade die
geübten Solidaritätstaktiken bildeten eine Basis für das Funktionieren des Ganzen.
Übereinkünfte:
- Alle Teilnehmenden der Aktion hatten sich auf Leitlinien der Gewaltlosigkeit
verpflichtet: Keine Gewalt anzuwenden, weder physisch noch verbal, keine Waffen zu tragen,
keine illegalen Drogen oder Alkohol mitzubringen, und kein Eigentum zu zerstören. Wir
brauchten uns nur für diese eine Aktion darauf zu verpflichten und die Gruppe
akzeptierte, daß es um diese Leitgedanken sehr unterschiedliche Auffassungen gibt.
Bezugsgruppen, Abteilungen und Sprecherberatungen:
- Die Teilnehmenden waren in kleinen Bezugsgruppen organisiert, die jeweils eigenständige
Entscheidungen über die Art ihrer Teilnahme an der Blockade trafen. Manche Gruppen
machten Straßentheater, andere wollten sich an Gebäude anketten, wieder andere trugen
Transparente und große Puppen, und noch andere bereiteten sich vor, mit verschränkten
Armen auf gewaltfreie Weise Deligierten den Zutritt zu verwehren.
- Die Bezugsgruppen wiederum waren in Abteilungen organisiert. Der Bereich um das
Konferenz-Zentrum herum war eingeteilt in dreizehn Abschnitte, die jeweils von bestimmten
Abteilungen mit ihren Bezugsgruppen gehalten wurden. Es gab auch
"Springergruppen", die sich dahin bewegten, wo sie am meisten gebraucht wurden.
All dies wurde bei den Sprecherberatungen beschlossen, zu denen die Bezugsgruppen je
eine/n Sprecher/in schickten.
- Diese Organisationsform führte dazu, daß die Gruppen während der Blockade sehr
flexibel reagieren konnten. Wenn ausgerufen wurde, daß an einem bestimmten Ort mehr Leute
gebraucht würden, konnte jede Gruppe für sich entscheiden, ob sie an ihrer Stelle
abkömmlich war oder nicht. Angesichts von Tränengas, Pfefferspray, Gummigeschossen und
Pferden konnten die Gruppen und Einzelpersonen ihre eigene Fähigkeit einschätzen, der
Brutalität standzuhalten. Das Ergebnis war, daß die Blockade-Reihen unglaubliche
Gewaltanwendung seitens der Polizei aushalten konnten. Wenn schließlich eine Gruppe dem
Gas und den Knüppeln weichen mußte, nahm eine andere direkt ihren Platz ein. Es gab aber
auch Raum für diejenigen unter uns, die schon mittleren Alters waren, Lungen- oder
Rückenprobleme hatten und die Reihen in relativ friedlichen Zonen hielten, wo sie mit den
abgewiesenen Deligierten in Kontakt kommen und diskutieren konnten. Sie unterstützten
auch den Aufmarsch, der um die Mittagszeit Zehntausende in den Bereich brachte. Keine
zentrale Leitung hätten mitten in diesem Chaos das Vorgehen koordinieren können, und es
wurde auch keine gebraucht unsere organische, autonome Organisation erwies sich als
viel kraftvoller und wirksamer. Keine autoritäre Führung hätte die Teilnehmenden
zwingen können, sich dem Tränengas auszusetzen aber ihrer selbst mächtige
Menschen fällten selbst diese Entscheidung.
Konsensentscheide:
- Alle Bezugsgruppen, Abteilungen und der SprecherInnenrat sowie alle Arbeitsgruppen des
DAN (Direct Action Network) trafen Beschlüsse im Konsens. Damit findet jede Stimme
Gehör, und es kommt ein Respekt gegenüber Minderheitsmeinungen zum Ausdruck.
- Konsens war auch Teil des Gewaltfreiheits- und Gefängnis-Trainings, wurde aber nicht
als Einmütigkeit interpretiert. Die einzige Verpflichtung lag in der Gewaltfreiheit.
Darüber hinaus wurden Freiheit und Autonomie höher geschätzt als Anpassung. Unsere
Strategie im Gefängnis zum Beispiel beruhte darauf, daß viele dort blieben, um Einzelne
davor zu schützen, herausgegriffen und einer brutaleren Sonderbehandlung unterzogen zu
werden. Aber niemandem wurden Schuldgefühle gemacht, wenn er oder sie vor den anderen
nach Hause ging. Wir anerkennen, daß jede Person ihre eigenen Bedürfnisse und ihre
Lebenssituation hat und daß es darum geht, daß alle sich ihrer jeweiligen Lage gemäß
beteiligen.
Vision und Geist:
- Die Aktion umfasste Kunst, Tanz, Feiern, Singen, Rituale und Magie. Sie war mehr als nur
ein Protest, sondern die Errichtung einer Vision wirklicher Fülle, eine Feier des Lebens,
der Kreativität und Verbundenheit, die auch angesichts der Brutalität fröhlich blieb,
und schöpferische Kräfte zum Vorschein brachte, die es mit denen der Ungerechtigkeit und
der Kontrolle wahrhaft aufnehmen können. Viele Menschen brachten die Kraft aus ihrer
jeweiligen spirituellen Praxis mit in die Aktion ein. Ich beobachtete, wie Buddhisten
verärgerte Deligierte mit ihrer liebevollen Freundlichkeit abwiesen. Wir Hexen leiteten
vor der Aktion und im Gefängnis Rituale an und riefen die Kräfte der Natur zu unserer
Hilfe. Ich erhielt Reiki, als ich krank wurde, und wir feierten ohne Kerzen Hanukah, nur
mit den Segnungen und der Geschichte eines Kampfes um religiöse Freiheit. Wir fanden die
Inspiration, in den Zellen zu singen, in der Sammelzelle einen Spiraltanz zu machen, über
die zahllosen kleinen Demütigungen des Gefängnisses zu lachen, uns in Momenten der
Anspannung gegenseitig zu trösten und uns zuzuhören, unsere Zeit mit Erzählen,
Organisieren und dem Imaginieren des weiteren Erblühens unserer Bewegung zuzubringen.
Für mich war dies eine der tiefsten spirituellen Erfahrungen meines Lebens.
Ich schreibe all das auch zwei Gründen. Zunächst möchte ich den Organisatoren des
DAN danken, die ausgezeichnete Arbeit geleistet haben, indem sie die Lektionen aus zwanzig
Jahren gewaltfreier direkter Aktion einbrachten. Sie brachten trotz gewaltiger
Schwierigkeiten eine kraftvolle, erfolgreiche und lebensverändernde Aktion zustande, die
die politische Weltlandschaft verändert und die nächste Generation radikalisiert hat.
Und zweitens, weil die wahre Geschichte der Organisation dieser Aktion ein gutes Modell
bietet, von dem AktivistInnen lernen können. Seattle war nur ein Anfang. Vor uns liegt
der Aufbau einer globalen Bewegung, um die Vorherrschaft der Konzerne zu überwinden und
eine neue Wirtschaftsordnung zu gestalten, die auf Fairness und Gerechtigkeit aufbaut, die
eine gesunde Umwelt erhält und die die menschliche Freiheit schützt und dem Frieden
dient. Wir haben noch viele Kampagnen vor uns und haben es uns verdient, aus unseren
Erfolgen zu lernen.
Übersetzung Jörg Wichmann