(Der folgende Artikel von Starhawk erschien 1984 in der Zeitschrift UNICORN – Magie, Schamanismus, Wege zu Erde.
Wir bringen ihn hier so wie er derzeit erschienen ist, auch mit der redaktionellen Einleitung.)

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Die Autorin des folgenden Berichts, Starhawk, dürfte unseren LeserInnen als Vertreterin des Wicca-Kults bekannt sein. Ihr Bericht aus Nicaragua ist für uns insofern interessant, als sie dort eine bislang völlig vernachlässigte Dimension beschreibt: die Revolution des nicaraguanischen Volkes ist sehr stark auch spirituell motiviert; es gibt dort nicht unsere typische Trennung in Leben und Glauben, Politik und Religion. Ein wirklich beeindruckendes und inspirierendes Beispiel für alle von uns, die nicht damit zufrieden sind, Magie im sauerstoffversorgten Glaskasten zu betreiben. Auch Starhawks eigener Einsatz als Friedensposten in dieser gefährdeten Grenzgegend ist ein gutes Beispiel dafür, wie magisch-spirituelle Arbeit auch ihren Niederschlag in konkreter politischer und sozialer Aktion finden kann.

Religion und Revolution –

Notizen aus Nicaragua

 

von Starhawk

Im Dezember 1984 verbrachte ich zwei Wochen in Nicaragua als Teil einer speziellen Delegation, die sich 'Friedenszeugen' (witness for peace) nennt. Die Friedenszeugen sind eine vorwiegend christliche, kirchliche Gruppe, die 15 Freiwillige langfristig in Nicaragua hat, die aus erster Hand Berichte von den Bedingungen, den Angriffen und Entwicklungen dort sammeln und kurzfristige Delegationen beim Besuch des Landes unterstützen, besonders aber im Grenzbereich als gewaltfreie Zeugen den Kampf des Volkes beobachten. Ich ging mit einer jüdischen Delegation dorthin. Obwohl ich in meiner spirituellen Praxis überzeugte Heidin bin, bin ich von Geburt, Kultur und Erziehung jüdisch und begrüßte diese Gelegenheit, Verbindung zu meinen Wurzeln aufzunehmen als auch bei den Friedenszeugen in einer Gruppe teilzunehmen, der ich mich spirituell näher fühle, als den Christen. Dies sind einige meiner Eindrücke.

Die Contras kommen von Honduras oder von ihrer geheimen Basis in Costa Rica. Sie haben jetzt die Versuche aufgegeben, wirkliches Territorium zu halten - sie verfolgen jetzt eine bloße Politik von Terror und Zerstörung. Sie greifen Krankenpfleger, Lehrer, Briefträger und die Leute an, die die Telefonleitungen reparieren, sowie auch die Arbeiter, die Baumwolle und Kaffee ernten. In diesen fünf Jahren seit der Revolution haben 8000 Nicaraguaner ihr Leben in dem ständigen Krieg verloren. Hier, in der Grenzregion mit kleinen Städten und Ansiedlungen an den staubigen Straßen der rauhen Berge, die an Honduras grenzen, gibt es nicht eine Familie, die nicht einen Sohn, eine Tochter, einen Freund oder die Freiheit in die Berge zu gehen verloren hat - in der Revolution oder den andauernden Kämpften.

Sie sind wie Zielscheiben, überall bei ihrer Arbeit, "Die Erde ist unsere Mutter", sagt ein Verantwortlicher in der neuen Kooperative in Sant Theresa mit den Scharen von Kindern mit Läusen in den Haaren und von Würmern geschwollenen Bäuchen; es kommt von dem schlechten Wasser aus dem Fluß; es gibt dort kleine neue Steinhäuser und endlose Arbeit in der heißen Sonne, "Die Erde ist unsere Mutter, und wir werden sie mit unseren Leben verteidigen."

Wir hören die Kanonen in den Bergen, wie Donner. Wir sehen die jungen Männer sich in den Lastwagen sammeln und kämpfen fahren; sie singen. Wir fragen die Frauen, wie ihnen zumute ist, wenn sie ihre Kinder in den Krieg ziehen sehen. "Wir sind stolz auf ihren Mut und Eifer", sagen sie.

Die Mörser sind das Hintergrundgeräusch, der bedrohliche Untergrund zum weitergehenden täglichen Leben. Schweine und Hühner scharren im Staub der Stadtränder, kreisen in endlosen Runden in den trockenen Straßen, laufen in die Höfe und durch die hohen Flügeltüren, die jedes Haus der Straße und dem Luftzug öffnen. Ein Ochsenkarren holpert vorbei - ich habe seine Deichsel und die massiven Räder in alten Sumerischen Ritzungen gesehen. Männer mit Cowboy-Hüten reiten in die Stadt - dies ist der Wilde Westen mit Maschinenpistolen anstelle von Winchester Rifles auf dem Rücken der Männer.

Dies ist das Land, das geradewegs aus unseren amerikanischen Kollektiv-Phantasien kommen könnte, wo es noch Gesetzlose in den Bergen gibt, und Banditen auf den Straßen. Wie unsere Jungs hier einen Krieg lieben würden!

Ist das unser wirkliches Interesse hier - die letzte Gelegenheit für eine Generation Amerikaner, mit TV und RonaldReagan-Filmen erzogen, Cowboy-und-Indianer-Spiele im wirklichen Leben auszuagieren?

Der Krieg, allgegenwärtig wie er ist, ist nur Hintergrund. Im Vordergrund sind die scharfen Geräusche von Feuerwerkskörpern, die überschwenglich explodieren, das Fest der Jungfrau, La Purisima, zu feiern. Denn Nicaragua ist ein leidenschaftliches Land und ein frommes, wo Religion mehr bedeutet als Gebete in verstaubten Kirchen. Der Geist hier, das Land, ist vulkanisch, lebendig von einem verborgenen, flüssigen Feuer, das in Fiestas ausbricht, in Explosionen, in den Funken, die die Revolution anfachen.

Immer wieder bestehen die Menschen darauf, uns klarzumachen, daß Nicaragua ein christliches Land ist. Sie sind erzürnt über Reagans Propaganda, die Sandinistas seien antikirchlich.

"Es gibt zwei Kirchen hier", sagt Ernestina Reyes de Luis, eine der Mütter von Märtyrern und Heroen. "Es gibt die Kirche der Armen und die Kirche der Kapitalisten." Die kapitalistische Kirche, die der Bischöfe, ist nicht enteignet worden, verliert allerdings mehr und mehr die Unterstützung des Volkes.

"Wir sind Christen", sagen sie uns immer wieder; aber der Christus, den sie in der Kirche der Armen anrufen, ist ein immanenter Christus, der wie andere gefallene Helden und Märtyrer noch anwesend ist, der mit uns geht und in uns ist. Der Christus der Missa Campesino, der Masse der Bauern. Hier in diesen langsamen und staubigen Dörfern erscheint Jesu Leben zeitgemäß - auch er lebte in sonnengebackenen Hütten wie diesen, mit Tieren, die ein und ausgehen, mit Menschen, die hinter den Ochsen auf dem Feld gehen. Und was die Menschen in der Bibel lesen, wird in der Revolution konkrete Praxis - den Armen zu dienen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, zu teilen, was man hat. "Die Revolution erinnert uns daran, als Christus auf der Erde wandelte."

Das ist die Wahrheit, die Reagan den Christen in den USA nicht zu Ohren kommen lassen will - daß diese Revolution religiös ist. Daß sie ebenso wie sie von den Lehren von Marx inspiriert sein mag, umso mehr von Jesu Lehren angefeuert wird - interpretiert in einem so offenen, so lebendigen Geist, daß sogar ich, im Judentum verwurzelt und Heidin, die ich bin, mich davon inspiriert fühle.

Die Religion ist nicht von der Revolution geschieden, nicht getrennt von Comandante Thomas Borge, einem der überlebenden ursprünglichen Sandinista, der neun Monate Folter in Somozas Kerkern überlebte und der von Reagans Regierung als der marxistischste der Sandinista angegriffen wird. Nach dem Sieg der Revolution, so sagt man, traf Borge auf den Mann, der ihn inhaftiert und gefoltert hatte. "Ich schwor dir damals, Rache zu nehmen", sagte Borge, "Nun - so will ich mich an dir rächen: Ich werde dir verzeihen." Er ließ den Mann gehen.

Aber neben der Kirche der Armen und der der Reichen gibt es noch eine andere - eine Religion, von der nicht viel gesprochen wird, eine Religion, die von Feuerwerken und Festen, von Umzügen, Prozessionen und Ritualen lebt und die vor allem eine Religion der Jungfrau, der Mutter, ist.

In Corinto, der Hafenstadt, die von den USA vermint worden war, explodieren am Abend der Wintersonnenwende Feuerwerke zu Ehren der lokalen wundertätigen Jungfrau, der Jungfrau von Acta, die Corinto für zehn wilde Festtage mitten im Winter besucht. Zu genau der Zeit, wo wir nördlichen Heiden bei der Mutter Wache halten und die Geburt des Jahres erwarten, ist dort die ganze Stadt belebt von der Feier weiblicher spiritueller Kraft. Die Jungfrau wird in Prozessionen von Frauen auf dem Rücken getragen, mit Festwagen, Lärm und einer kleinen Blechkapelle, und im Vorderzimmer eines Hauses aufgestellt. Wir schließen uns einer Menge Menschen an, die in den Raum drängt und großzügig einen Weg für die Gringos freimacht. Vorn steht eine kleine, geschnitzte Holzstatue einer Frau mit seligem Antlitz, langen schwarzen Locken und einem langen blauen Umhang um ihren schwarzen Sombrero drapiert. Sie ist in weißen Samt mit Spitzen gekleidet und steht auf einem Podest. Darunter sitzt ein blonder Engel, der verzückt auf ihr Gesicht zeigt, und zu ihren Füßen ist ein Schriftzug in Spanisch: "Fürchte dich nicht, Gott ist mit dir."

Die Leute schweigen ergeben oder murmeln Gebete. Eine Frau stimmt eine Hymne an und andere Stimmen nehmen sie auf, sich zum Unisono steigernd und bauen in dem kleinen kahlen Raum Kraft auf, Kraft, die sich in den ausgestreckten Händen der Jungfrau sammelt, in ihrem Segen. Ich stehe bewegungslos, die bezauberte Außenseiterin. Hier, wo ich erwartete mich spirituell isoliert zu fühlen, habe ich das Gefühl, zu einem Volk heimgekommen zu sein, das meine Religion ausübt.

Um Mitternacht rufen uns neue Explosionen heraus. Ein Mann rennt die Straße herauf und herunter, sein Kopf und Oberkörper von einem Lattengestell mit einem stilisierten Stierkopf vorne umgeben. Feuerwerkskörper sind am Holz befestigt und sie explodieren in Sprühregen von Funken und speien Feuer, als er die lachende Menge die Straße hinauf und um die Ecke jagt, während die Blechkapelle spielt. Es ist die Sonnenwende, Licht und Feuer vertreiben die Dunkelheit, und die Jungfrau und der Stier sind polar miteinander verbunden, Zwillingssäulen eines hier und jetzt lebendigen Geistes, wie sie auch in den prähistorischen Höhlen, den ersten Städten und dem alten Mutterrecht verbunden waren.

Die Wache dauert die ganze Nacht an. Bei Sonnenaufgang spielt die Band, Feuerwerkskörper explodieren in den Straßen, und die Jungfrau wird in ein anderes Haus gebracht - direkt gegenüber der Baptistenkirche, wo wieder die Menschen - bis die Sonne ganz aufgegangen ist - unter Leitung einer Frau singen und beten. Dann wird die Jungfrau wieder einer alten Frau auf den Rücken gebunden, drei andere Greisinnen stützen den Glaskasten, und sie wird fortgetragen. Die Leute folgen ihr und singen "Adios!"

Die Fahrt nach Nicaragua hat mir eine Menge zu denken gegeben. Ich wurde inspiriert von der Intergration von Politik und Spiritualität als Teil einer lebendigen gesellschaftsverändernden Kraft. Ich fühlte, daß die Arbeit, die viele von uns jahrelang getan haben, von der lebenden Realität der sandinistischen Revolution bestätigt wird - gleichzeitig fühlte ich mich zutiefst herausgefordert. Ich frage mich, ob wir je etwas so Dynamisches, so Weitreichendes, so Reales schaffen können. Ich fühlte mich tief bewegt, so vieles, wovon ich immer geredet, geschrieben und gepredigt habe, in der Praxis zu sehen. Mag sein, daß ich tief in meinem Herzen die ganzen Jahre eine leise Stimme gehört habe: "Es kann nicht geschehen - nicht zu deinen Lebzeiten - keine wahre Veränderung". Das ist die Stimme der Verzweiflung - aber auch des Trostes. Es ist die absolute Entschuldigung, der Ausweg daraus, sich der harten Frage zu stellen, was wir wirklich tun müssen, um Veränderung zu schaffen. Mag sein, daß ich unbewußt mich auf diese Stimme verließ, die Fehlschläge, die Niederlagen und Frustrationen zu verdecken. Wie unheimlich, den Schleier fortzunehmen und die Möglichkeiten und die Fehlschläge nackt anzusehen.

Aber wie wir im Wicca sagen: wo Furcht ist, da ist auch Kraft.

Und immer noch sind unbeantwortete Fragen verblieben. Als Frau, als Jüdin und als Hexe kenne ich zweitausend Jahre Geschichte, in der das Christentum meistens eine unterdrückende Kraft war. Warum ist das in Nicaragua anders? Ich kann das nach einem zu kurzen Besuch von wenigen Wochen nicht beantworten, aber ich denke, diese Frage wird für unser Verständnis sehr fruchtbar sein, wohin wir mit unseren eigenen politisch-spirituellen Bewegungen gehen wollen.

Derweil geht der Krieg weiter. Was aus der Revolution wird, hängt zum großen Teil davon ab, ob sie dem wirtschaftlichen und militärischen Druck standhalten kann, der direkt oder indirekt von der US-Politik ausgeht und davon, wie weit die Ideale der Revolution verzerrt werden müssen, um diesem Druck zu begegnen

Es gibt viel, was wir selbst tun können. Über die europäischen Regierungen und internationalen Solidaritätsbewegungen kann die Reagan-Administratur zur Zurückhaltung bewegt werden. Unterstützergruppen für Nicaragua finden sich in allen größeren Städten oder sind über alternative und engagierte Zeitungen (z.B. TAZ) zu erfragen.

Schließlich sollten wir tiefer darauf sehen, wie wir uns selbst und die Gesellschaft, in der wir leben, verändern können, so daß wir unsere Energien auf Kreativeres richten können, als unsere Füße gegen den steten Ansturm der Zerstörung zu stemmen - so notwendig diese Arbeit auch ist - und wirkliche Partner werden in der Arbeit die Freude dieses lebenden, fühlenden Wesens, das unsere Mutter Erde ist, wieder ins Leben zu bringen.