Was in New York geschah
Von Starhawk
Übersetzung : Brigitte Hummel
Das Wochenende vom 15./16. Februar ist das Wochenende eines
historischen, weltweiten Aufstands für Frieden. Unzählige Demonstrationen fanden statt:
ungefähr 10 Millionen Menschen nahmen daran teil. Es gab Demonstrationen, Mahnwachen und
Proteste in den Hauptstädten und Kleinstädten vieler Nationen, im Mittleren Westen
Amerikas und auf kleinen Pazifikinseln, in der Eiseskälte von Alberta (Kanada) und der
Hitze des australischen Sommers. Palästinenser und Israelis demonstrierten zusammen in
Tel Aviv; in den USA waren Republikaner, Sozialisten und Anarchopunks zusammen auf den
Straßen. Und bei den meisten dieser hunderte von Veranstaltungen gab es offenbar nur
geringen Druck vonseiten des Staates. New York stellte eine Ausnahme dar.
New York, die größte Stadt in dem Land, das sich für den strahlenden Vorreiter einer
weltweiten Demokratie hält, verweigerte den OrganisatorInnen des Protestes die Erlaubnis
zu demonstrieren. Nur eine örtlich gebundene Kundgebung wurde erlaubt.
Das Verbot einer Demonstration war nur ein Teil einer Störkampagne, die u.a. die
folgenden Maßnahmen einschloss: am Vortag der Kundgebung wurde das Gerücht in Umlauf
gebracht, dass die Veranstaltung abgesagt worden sei; ein Terroristenalarm Stufe Orange
(=zweit höchste Gefahrenstufe) wurde ausgerufen, worauf mit automatischen Gewehren
bewaffnete Militärposten die U-Bahnen besetzten; die Anmietung transportabler Toiletten
für die bei der Kundgebung erwarteten Menschenmengen wurde verboten; am Morgen der
Kundgebung gab es eine rätselhafte Umleitung von U-Bahnen und Bussen; die Telefone im
Büro von United for Peace and Justice (Vereint für Frieden und Gerechtigkeit) wurden
während der Kundgebung abgeschaltet; die Polizei verhielt sich repressiv, hart, manchmal
brutal, errichtete Barrikaden um den offiziellen Ort der Kundgebung und hinderte Tausende
daran, überhaupt dahin zu kommen.
New York hat die größte Polizeitruppe der Welt: 40.000 Männer und Frauen. Wenn die
beschließen, den öffentlichen Raum zu kontrollieren, stehen ihnen eine Menge Mittel zur
Verfügung, und deshalb haben sie im Allgemeinen auch Erfolg. Nicht so vergangenen
Samstag.
Am Samstag setzten sich ungefähr 60 verschiedene Demonstrationszüge von
unterschiedlichen Punkten in der Stadt in Bewegung, um zum Ort der Kundgebung zu gelangen.
Viele von ihnen hatten die Absicht sich an die gesetzlichen Vorschriften zu halten und den
Gehweg zu benutzen, wozu keine Erlaubnis nötig ist. Einige liefen auf den Straßen. Das
Benutzen der Straße war eigentlich ein Akt zivilen Ungehorsams, ein bewusstes Übertreten
einer ungerechten oder ungerecht angewandten Verordnung. In diesem Fall hatten viele von
uns das Gefühl, dass diese Verordnung, die uns daran hinderte vereint zu demonstrieren,
unsere in der Verfassung fest geschriebenen Rechte der Rede- und Versammlungsfreiheit
verletzte. Und dass uns unsere politischen Spielräume schnell genommen würden, wenn wir
sie in diesem entscheidenden Augenblick nicht verteidigten. Den Gruppen der darstellenden
KünstlerInnen und der ArbeiterInnen gelang es auf die Straße zu laufen und ohne
Zwischenfall zum Ort der Kundgebung zu gelangen. Die Polizei hielt sich im Hintergrund und
ließ sie in Frieden. Die StudentInnen hatten kein solches Glück. Ich befand mich in
ihrer Gruppe, die sich um 10 Uhr morgens am Union Square versammelte. Eine Gruppe von der
New Yorker Universität schloss sich uns an, und zusammen liefen wir in Richtung 14.
Straße, bis zur Sixth Avenue auf dem Gehweg, dann schwärmten wir aus auf die Straße.
Wir liefen triumphierend die Avenue hinauf, schnell und überschwänglich, eine Menge, die
sich nicht bremsen ließ, obwohl einige von uns genau das versuchten, um die mehreren
tausend Menschen zusammen zu halten.
An der 21. Straße versperrte uns eine Polizeikette den Weg. Sie befahlen uns, auf den
Gehweg zurückzugehen, wenn wir nicht verhaftet werden wollten. Die Polizei verhielt sich
provokativ, stieß und schob uns mit ihren Gummiknüppeln. Die StudentInnen waren von
bewundernswerter Zurückhaltung und wehrten sich nicht. Stattdessen liefen sie alle in
eine Seitenstraße, rannten über einen Parkplatz und kamen in einer anderen Straße
wieder zum Vorschein. Ein Teil der Gruppe kam nicht mit, bildete aber eine neue
Marschkolonne, die sich durch die Nebenstraßen wand. Wir trafen auf der Fifth Avenue
wieder zusammen, aber da nahmen uns zwei Reihen von Polizisten in die Zange, schoben uns
in die 23. Straße und hielten uns da fest. Ich sah wie fünf Polizisten einen jungen Mann
zu Boden stießen, sich auf ihn knieten und ihm die Arme auf den Rücken drehten, um ihm
Handschellen anzulegen.
Die Straße war voll von StudentInnen, und die Polizei beschloss, berittene Polizei
hindurch zu schicken und so die Menge zu teilen und auf den Gehweg zurück zu drängen.
Die Pferde, von denen einige kaum unter Kontrolle zu sein schienen, trotteten durch die
Menge, und die Polizei verkündete, dass sie nur kleinere Gruppen weitergehen lassen
werde, ungefähr 50 auf einmal. Unsere Gruppe wurde geteilt, eine Hälfte konnte
weitergehen, die andere Hälfte wurde fest gehalten. Diejenigen, die weitergehen durften,
wurden von der Polizei gezwungen sich schnell zu bewegen, damit sie sich nicht wieder
zusammenrotten konnten. Unsere kleine Gruppe lief zur Hauptbibliothek an der 42. Straße,
wo wir auf ein paar verloren gegangene Mitglieder unserer Gruppe stießen. Zusammen gingen
wir weiter zum Ort der Kundgebung. Die Polizei hatte an allen nach Osten führenden
Straßen Barrikaden errichtet. Sie behinderte dadurch den Zugang zum Ort der Kundgebung.
Viele Leute waren fassungslos und wütend, trotzdem herrschte eine Stimmung kreativer
Entschlossenheit.
Unsere Gruppe ging auf die Toilette in einem Dunkin Donuts (=Krapfenkette) und fand
heraus, dass wir durch eine Seitentür auf die Straße hinter der Barrikade gelangen
konnten. Wir liefen weiter zur 3. Straße, die voll war von Menschen, die ihre eigene
Kundgebung veranstalteten. Auf Kiosken stehend führten Leute mit riesigen Masken Sketche
vor; radikale Cheerleader (= junge Leute, die das Publikum bei Sportveranstaltungen
anfeuern) in Schlafanzügen mit Kopfkissen im Arm schrien: "Nuclear war, thats
not right! Bush and Saddam should have a pillow fight!" (= "Ein Atomkrieg, der
ist Krampf! Bush und Saddam, kämpft einen Kissenkampf!").
Gruppen von Menschen scharten sich um Radios, um etwas von der Kundgebung mitzubekommen,
sie tanzten oder sangen oder liefen auf und ab und genossen das, was um sie herum vorging.
Die Menge setzte sich aus vielen unterschiedlichen Rassen, Gesellschaftsschichten und
Altersgruppen zusammen. Ich sah junge StudentInnen und grauhaarige Veteranen der
Friedensmärsche der 60er Jahre, Punks und Hippies und Bürgerinnen und Bürger,
abgerissen aussehende Obdachlose und eine elegant gekleidete Frau im Pelzmantel. Sie trug
ein Plakat mit der Aufschrift: "Justice for Palestine" ("Gerechtigkeit für
Palästina").
Wir gingen weiter in Richtung Times Square, wo eine unerlaubte Zusammenkunft stattfand,
und trommelten und sangen an einer Ecke des Platzes. Die Polizei errichtete schnell
Barrikaden, drängte die Menge zusammen und ließ niemanden hinaus oder hinein.
Wir konnten schließlich den Platz verlassen und trafen viele, die wütend waren über die
harte Taktik der Polizei. Eine junge Frau schluchzte panisch in ihr Handy, weil sie von
ihrer Mutter getrennt worden war und nicht an den Platz zurück gelangen konnte, und sie
war außer sich, dass die Polizei sie abgedrängt hatte. Wir beruhigten sie und halfen ihr
ihre Mutter zu finden. Später am Abend entgingen wir nur knapp der Verhaftung zusammen
mit einer Gruppe von etwa 200 Menschen, die genauso auf dem Gehweg liefen wie es erlaubt
und den ganzen Tag über geschehen war. Wir wurden gestoppt, von Polizisten umzingelt und
festgehalten. Insgesamt 350 Menschen wurden in Haft genommen. Die meisten von ihnen hatten
nur versucht zu der erlaubten Kundgebung zu gelangen.
Wenn die Polizei eine Erlaubnis ausgestellt hätte, den OrganisatorInnen im Central Park
Platz für ihre Kundgebung gegeben hätte, worum diese ursprünglich gebeten hatten, wenn
sie eine Demonstration erlaubt und unterstützt hätte, dann hätten sich die Menschen
einfach versammelt und hätten demonstriert wie in hunderten von Städten auf der Welt,
und Pferdepatrouillen und Bereitschaftspolizei wären nicht nötig gewesen. Eine
offizielle Demonstration und eine große Kundgebung in einem offenen Park, ohne
Straßensperren oder potentielle Ziele für Vandalismus wären einfacher und billiger zu
kontrollieren gewesen.
Stattdessen schuf die Polizei eine Lage, die den Frust und die Wut einer Menge hervorrufen
musste, die so riesig war, dass keine noch so starke Polizeimacht sie hätte kontrollieren
können, wenn sie aggressiv geworden wäre. An einer Stelle drängten sich einige wenige
Leute tatsächlich durch die Absperrgitter, und es kam zu einem Kampf. Wäre das Gleiche
entlang des ganzen Weges geschehen, hätte es eine Straßenschlacht gegeben, die mit der
Erstürmung der Bastille hätte mithalten können.
Und wenn es Gewalttätigkeiten gegeben hätte, wären sie nicht von militanten oder
Anarchogruppen oder von Leuten gekommen, die aus Prinzip an bewaffnete Freiheitskämpfe
glauben. Denn all diese Gruppen waren sich einig, dass dies ein Augenblick für einen
friedlichen Protest war. Sie wären vermutlich von ganz normalen Menschen gekommen, mit
denen man etwas zu weit gegangen war, und die einfach ihre Nerven verloren und um sich
schlugen. Die Polizei hatte sehr großes Glück. Wäre es zu Ausschreitungen gekommen,
hätten all ihre Absperrgitter, Ausrüstung und Pferdetrupps sie nicht unter Kontrolle
bringen können.
Niemand wollte, dass das geschah, weder die OrganisatorInnen noch irgendeine der
beteiligten politischen Gruppierungen. Für diejenigen von uns, die für Gewaltlosigkeit
eintreten, die wirklich daran glauben, dass Menschen ruhiges Verhalten in provozierenden
Situationen einüben können, und die die Menschen zu friedlichen Formen des Protests
ermahnen, ist es wichtig zu sehen, dass die Zurückhaltung der Menge nicht auf
irgendwelchen allgemein anerkannten Regeln oder einer bestimmten Weltanschauung basierte.
Die Menge war zu riesig und zu unterschiedlich dazu. Sie kam auch nicht durch gutes
Zureden von der Plattform oder durch gute Führung zustande, der größte Teil der Menge
kam gar nicht nah genug an die Plattform heran, um etwas hören zu können. Sie bewahrte
Ruhe trotz der absolut unprovozierten Belästigungen durch die Polizei. Ehrlich gesagt
hätte diese gar nicht die Kontrolle behalten können, wenn die Menge das nicht zugelassen
hätte.
Diese Nachgiebigkeit gründete teilweise auf der Furcht vor den Knüppeln, dem
Pfefferspray, den großen Pferden und den Waffen der Polizei. Darüber hinaus weiß die
Polizei die geballte Macht des Staates hinter sich, wenn es darum geht, diejenigen, die
sie herausfordern, zu bestrafen. Allerdings können Wut und Frustration Angst und Vorsicht
überwinden. Der Protest blieb friedlich, weil die Menge selbst friedlich für den Frieden
demonstrieren wollte, und weil es die unausgesprochene Übereinstimmung gab, die
Autorität der Polizei zu respektieren und die von ihr ausgeübte Kontrolle nicht in Frage
zu stellen.
Diese unausgesprochene Übereinstimmung basiert auf dem Glauben, dass diese Autorität
eigentlich rechtmäßig ist. In einer Demokratie geht die rechtmäßige Autorität vom
Volk aus, nicht einfach von denjenigen, die die Macht und die Mittel besitzen brutale
Gewalt auszuüben. Eine kleine Elite könnte die Kontrolle über die Waffen, das Geld, die
Polizei und die Armee erlangen, aber sie verliert ihre Legitimität in dem Maße, in dem
sie ihre Kontrolle mit brutalen Mitteln durchsetzen will. Genau das geschah immer wieder
auf den Straßen von New York. Alle von uns, denen der Zugang zu einer genehmigten
Kundgebung verwehrt wurde, alle, die herum gestoßen und eingeschüchtert wurden, verloren
ein Stück dieses Glaubens.
Der Glaube an die Legitimität von Autoritäten ist das Bindemittel, das das
Gesellschaftssystem zusammenhält. Dieses Bindemittel kann sich auflösen. In New York hat
es gerade noch gehalten, aber das könnte beim nächsten Mal anders sein. Die Autoritäten
fürchten die bloße Darstellung einer abweichenden Meinung nicht allzu sehr. Und sie
fürchten auch nicht wirklich kleine Gruppierungen, die sich durch extreme Aktionen selbst
an den Rand versetzen und isolieren. Aber sie täten gut daran, den Verlust ihrer eigenen
Legitimität in den Augen der Massen zu fürchten.
Die Bush - Administration wurde nicht gewählt, ihre Autorität war von Anfang an
erschüttert und wurde nur durch den Schock und die Angst gestützt, die durch die
Angriffe des 11. September ausgelöst wurden.
Was die Kriegstreiber letztendlich mäßigen könnte, ist ganz einfach die Möglichkeit,
dass das Volk unregierbar wird, wenn die Regierung weiterhin unseren Willen missachtet.
Wenn die Bush-Administration die Vorbereitungen für ihren präventiven Angriffskrieg
trotz dieses starken Widerstandes weiter treibt, wird sie die Legitimität, die Basis für
ihre Kontrolle, zerstören und die Art sozialer Unruhe auslösen, die Regierungen zu Fall
bringt.
Schmutzige Tricks, Desinformation, Druck und Angst konnten die Menschen nicht davon abhalten in New York auf die Straßen zu gehen. Auf Ungerechtigkeiten und ungeheure Provokationen reagierten sie mit Zurückhaltung, mit Leidenschaft und Freude und entdeckten die Macht, die in unserer Gemeinsamkeit liegt. Genau das geschah in New York. Die Herausforderung, die jetzt vor uns liegt, ist, diese Macht zu stärken, sie zu festigen und zu überlegen, wie wir sie benutzen: Benutzen wir sie, um den Krieg zu verhindern, die riesigen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Probleme, von denen der Krieg ablenkt, zu benennen, und um aus dem Mythos Demokratie eine wirklich Demokratie zu schaffen.
Starhawk ist eine Aktivistin, Organisatorin und Autorin von Webs of Power:Notes from the Global Uprising (Netze der Macht: Notizen über globalen Aufstand) und acht weiteren Büchern über Feminismus, Politik und erdgebundene Spiritualität. Sie arbeitet mit dem RANT Trainer-Kollektiv, www.rantcollective.org, das Training und Unterstützung für Aktionen die globale Gerechtigkeit und Friedensfragen betreffend anbietet.
Die Website von Starhawk ist www.starhawk.org
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