Noch mehr Blutvergießen in Rafah
Ein Text von Starhawk vom 12. April 2003
Übersetzung: Brigitte Hummel
In Rafah wurde erneut ein Aktivist der Internationalen Solidaritätsbewegung angeschossen.
Von einem israelischen Wachtturm an der Grenze des Gazastreifens mit Ägypten aus schoss
ein Scharfschütze Tom Hundall in den Kopf. Die Wachttürme wurden rings um Gaza errichtet
und machen es zu einer Art Freiland-Gefängnis, das eine idyllische Region mit
Sonnenschein, Meer und Orangenhainen beinahe verdeckt. Ein paar Olivenhaine sind noch zu
sehen, eine Schaf- und Ziegenherde grast auf einem leeren Grundstück. Bauern bringen ihre
Waren in einem Eselskarren zum Markt, und alte Frauen backen Brot in Tonöfen. Eine uralte
Ordnung überlebt unter einer Decke von Beton, Staub und Schutt; sie wird bedroht von
Planierraupen, Türmen für Scharfschützen, Panzern, aus denen nachts geschossen wird.
Mehrere Morgen Land sind von Stacheldraht umgeben, die Zone des Niemandslandes wird gerade
erweitert und wird bald an eine neun Meter hohe Betonmauer grenzen, die die Landschaft
durchtrennt und Rafah unwiderruflich von Ägypten abschneidet.
Die Mauer wurde angeblich aus Sicherheitsgründen errichtet, um ein Eindringen von
Selbstmordattentätern und Waffen nach Israel zu verhindern. Aber in Wirklichkeit stellt
die Mauer den nächsten Schritt in der israelischen Politik der Landnahme und Kontrolle
dar. In der West Bank verläuft die Route der geplanten Mauer von der Grünen Linie, die
die Grenze vor 1967 markiert, kreuz und quer durch die Landschaft. Wenn fertig gestellt,
wird sie den Palästinensern mehr als die Hälfte des verbleibenden Landes wegnehmen.
Städte wie Nablus und Jenin werden abgeriegelt und eingeschlossen sein und werden so zu
isolierten Bantustans. In der Region von Qualquilya hat die erste Phase des Mauerbaus den
Dorfbewohnern 50% ihres Farmlandes und 19 Brunnen genommen, die ein Drittel des Wassers in
diesem Gebiet lieferten. MasHa wird voraussichtlich über 90% seines Farmlandes verlieren.
Eine Nation von Gärtnern und Bauern wird zu einer Nation von Gefangenen werden.
Diese Mauer stellt den sichtbaren und unwiderruflichen Abschluss einer Politik dar, die
bereits jetzt die Bewegungsfreiheit der Bewohner durch hunderte von Kontrollpunkten
einschränkt, die Familien auseinander reißt und einen normalen Ablauf des
Tagesgeschehens durch zeitraubende Kontrollen und persönliche Erniedrigungen praktisch
unmöglich macht.
Die Mauer wird jede Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung zunichte machen. Wenn sie einmal
fertig gestellt ist, kann kein lebensfähiger Palästinenserstaat existieren.
Palästinenser und Menschen, die sie unterstützen, haben immer gefürchtet, dass die
Israelis die Palästinenser zwangsweise aus der West Bank vertreiben oder aussiedeln
werden. Stattdessen scheint es jetzt die Politik der Israelis zu sein, die
palästinensische Bevölkerung in einer riesigen Gefängniskolonie eines Groß-Israel
einzuschließen und zu isolieren.
Im Gazastreifen ist diese Politik bereits weit fort geschritten. Überall stehen
Wachtposten und Türme für Scharfschützen. Panzer patrouillieren bei Nacht in den
Grenzgebieten, und Soldaten schießen in Straßen hinein, in Häuser, auf Gruppen von
Kindern. Manchmal tun sie es aufs Geratewohl, manchmal gezielt.
Um die Mauer in Gaza und der West Bank zu bauen, walzen die Israelis Olivenbäume und
Wohnhäuser nieder, die ihnen im Weg stehen. Vor drei Wochen wurde die 23jährige Rachel
Corrie absichtlich von einer Planierraupe überrollt, als sie versuchte, die Zerstörung
von Wohnhäusern zu verhindern. Die Israelis haben ihren Tod nicht ernsthaft untersucht,
sie haben die für ihn verantwortlichen Soldaten auch nicht zur Rechenschaft gezogen. So
weit wir wissen, hat weder ein Disziplinarverfahren gegen sie stattgefunden, noch wurde
irgendeine Form von Strafe verhängt. Stattdessen scheint die absichtliche Ermordung von
internationalen HelferInnen zur Politik geworden zu sein.
Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass in der vergangenen Woche wahrscheinlich
hunderttausende junger Männer und einige Frauen im Alter von Brian, Rachel und Tom
gestorben sind; dass hunderte von Palästinensern und Palästinenserinnen gestorben sind,
unbeachtet von der Weltpresse. Als Zahl genommen werden die Toten gesichtslos. Es ist
schwer, die Last des mit Tod verbundenen Schmerzes zu ergründen, wenn wir ihn mit der
zahl hunderttausend multiplizieren müssen.
Tom und Rachel haben Gesichter für mich, weil sie Teil unserer Gruppe waren, die hier
alle die gleiche Arbeit tun: mit gewaltfreien Methoden einen Raum für Wandel öffnen. Tom
und Rachel haben Gesichter.
Ich habe am Donnerstag Brian Avery besucht, der vor einer Woche von einem schweren
Geschütz auf einem gepanzerten Personentransporter der Israelis ins Gesicht getroffen
wurde. Brian und ich hatten zusammen Wache gestanden an einem Kontrollpunkt in Nablus. Er
ist Gärtner, Biobauer, Musiker. Jetzt steht ihm ein Jahr schwerer Operationen bevor, die
seine zerschmetterte Nase, seine Kiefer und die Wangenknochen sowie seine zerfetzte Zunge
wieder herstellen sollen. Brians Gesicht ist im Augenblick eine groteske, schmerzende
Maske, aber er hat wenigstens eines. Er gehört zu den Glücklichen, er wird überleben,
sein Hirn, seine Augen und Sinne funktionieren. Er wird sogar wieder sprechen können.
Tom war 23 und kam aus Manchester, England. Er wurde angeschossen, als er versuchte Kinder
zu beschützen, sie in letzter Minute aus dem Feuerbereich eines Scharfschützen auf einem
israelischen Wachtturm zu bringen, wo Soldaten versteckt und sicher stehen und aus Spaß
auf PalästinenserInnen zielen. Die Soldaten schossen auf eine Gruppe von Kindern, die
sich an einer Straßenecke versammelten. Tom hatte schon einen Jungen aus der Feuerzone
heraus und in Sicherheit gebracht. Er ging zurück, um zwei Mädchen zu retten, die Angst
hatten weg zu laufen. Die israelischen Soldaten schossen ihn in den Kopf.
Tom war in den Irak gegangen, um humanitäre Hilfe als gewaltloser Friedenszeuge zu
leisten, hörte aber, dass seine Freunde gezwungen worden waren das Land zu verlassen und
über Jordanien nach Palästina gelangt waren, wo sie sich der Internationalen
Solidaritätsbewegung anschließen wollten. Jetzt liegt er auf einem Ventilator,
bewusstlos und ohne viel Hoffnung auf Heilung.
Tom nahm vergangene Woche an dem Trainingsprogramm teil, das ich zu leiten half. Wir alle
fühlen nun die Last der Verantwortung. Haben wir ihnen das Richtige beigebracht, die
richtige Weise Gefahren zu erkennen und Entscheidungen zu treffen? Haben wir ihnen die
Informationen gegeben, die sie zum Überleben brauchen?
Und doch kann ich mir einfach nicht vorstellen, was sonst wir zu Tom hätten sagen können
oder zu den AktivistInnen, die mit ihm zusammen waren, die auch bei Rachel waren, als sie
starb, und die nicht aufgegeben haben, nicht nach Hause zurückgegangen sind, die Rachel
nicht verlassen haben. Könnte ich zu einem jungen Mann, der mutig genug ist sich
Gewehrfeuer auszusetzen, um Kinder zu retten, sagen, er hätte abseits bleiben und
zulassen sollen, dass sie erschossen werden? Er hätte zuallererst sein Leben retten
sollen.
Warum?, fragen mich PalästinenserInnen immer wieder, wenn ich mich als
Amerikanerin zu erkennen gebe. Sie sagen nie: Ich hasse Amerika, nur:
Warum? Warum den Irak bombardieren? Warum Kinder töten?
Ich empfinde die gleiche Fassungslosigkeit. Warum Kinder töten? Warum noch mehr Blut
vergießen in Rafah? Warum Soldaten befehlen, unbewaffnete FriedensaktivistInnen in den
Kopf zu schießen?
Ruft eure israelische Botschaft an und stellt ihnen diese Fragen.
Wenn ihr Briten und Britinnen seid, fordert eure Botschaft auf, auf eine Untersuchung der
Schüsse auf Tom zu drängen.
Wenn ihr amerikanische StaatsbürgerInnen seid, fordert euren Kongressabgeordneten auf,
auf die Israelis Druck auszuüben, damit sie Rachels Tod und die Schüsse auf Tom
untersuchen.
Starhawk ist eine Aktivistin, Organisatorin und Autorin von Webs of Power:Notes from the Global Uprising (Netze der Macht: Notizen über globalen Aufstand) und acht weiteren Büchern über Feminismus, Politik und erdgebundene Spiritualität. Sie arbeitet mit dem RANT Trainer-Kollektiv, www.rantcollective.org, das Training und Unterstützung für Aktionen die globale Gerechtigkeit und Friedensfragen betreffend anbietet.
Die Website von Starhawk ist www.starhawk.org
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